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Institut für klassische Philologie

Epikur und die Forschung

Philosophische Positionen, die man mit dem im 19. Jahrhundert geprägten Begriff Hedonismus bezeichnet, gab es in der Antike schon vor Epikur. Doch vor allem und zu Recht verbindet sich mit Epikurs Namen die wirkmächtigste Theorie, die man als Lustlehre bezeichnen kann und nach der von Natur alle Lebenswesen nach Lust streben und Schmerz meiden.

Nach Epikurs Ansicht verlangt diese bisweilen verschüttete Grundtatsache menschlicher Existenz, dass der Mensch seinem Wesen gemäß nach Lust strebt. Diese Grundhaltung ergibt sich für Epikur aus einer unmittelbaren Betrachtung der Natur und bedarf keiner argumentativen Begründung. Zwar gab es Positionen, die wir heute als hedonistisch bezeichnen würden, schon vor Epikur – es sei hier nur auf Demokrit, Aristippos oder Eudoxos verwiesen – und wurde die Frage nach der Lust als leitendes Motiv der Lebensführung auch außerphilosophisch z.B. in der Dichtung thematisiert.

Doch war es Epikur, der das subjektive Anliegen eines Strebens nach Lust nicht nur zu einer anthropologischen Konstante erhob, sondern diese Erkenntnis zur Grundlage eines Gegenentwurfes zur klassischen Philosophie erhob und damit ein für allemal die hedonistische Tradition Europas prägte. Dabei ließ er sich von einem Zugriff zur Wirklichkeit leiten, den man mit dem modernen Begriff der Unmittelbarkeit vergleichen kann und der besondere Würdigung verdient.

Epikurs Hedonismus führt u.a. zu einer Relativierung und Funktionalisierung anderer, von Epikur als kulturelle Verformung beanstandeter kultureller Errungenschaften, die sich dem Kriterium des hedonistischen calculus unterwerfen mussten. Als Antwort auf platonische und aristotelische Kritik entwarf Epikur lustimmanente Kriterien und traf Unterscheidungen zwischen kinetischer und katastematischer Lust, welche die folgende Diskussion maßgeblich bestimmten.

Freilich lehrt ein erster Blick in die Rezeptionsgeschichte des Epikureismus: In der Antike und weit darüber hinaus ist seine These von der Lust als eigentlichem, naturgegebenem movens menschlichen Strebens, oftmals auf heftige Ablehnung gestoßen – im paganen und im christlichen Bereich. Dabei erweist sich die Diskussion oftmals geprägt von bisweilen durch polemischen Kontext bewirkten Missverständnissen.

Sofern man sich überhaupt auf Epikur einließ, erachtete man nicht selten allein seine Ausführungen zur Physik, eventuell noch die zur Logik, für diskussionswürdig. So beherrscht beispielsweise – um einen für die Wirkungsgeschichte des Epikureismus markanten Zeitraum herauszugreifen – zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert vornehmlich die epikureische Physik, insbesondere die Atomistik, weithin die Szene.

In der postmodernen Alltagskultur, die von einem weit verbreiteten Lifestyle-Hedonismus geprägt ist, scheint jedoch das – oftmals missverstandene – Lustprinzip eine grundlegende lebenspraktische Maxime zu sein. Seine theoretische Fundierung hat der Hedonismus dagegen verloren, seit Kants Pflichtethik, die bis in unsere Tage den moralphilosophischen Diskurs dominiert, die Lust theoretisch diskreditiert hat. Sieht man freilich genauer zu, dann ist zu beobachten – und ist noch nicht recht gewürdigt –, dass seit der Antike der epikureische Hedonismus bei aller Kritik auch positive Rezeption hervorgerufen hat, die sich – bisweilen subkutan – in paganem und sogar in christlichem Bereich im Kontext praktischer Ethik findet.

Epikurs im Grunde skeptische Distanz gegenüber Bedürfnisweckung und seine aufgeklärte Lebenshaltung werden gewürdigt; Grenze, Maß und Reduktion von Ansprüchen werden als epikureische Konditionen jener Seelenruhe erkannt, die Epikur vorbildhaft vorlebte. Bisweilen stand der Name Epikur weniger für einen ‘Lebenskünstler’ als für einen Lehrer und eine ars vitae, die reflektierte Lust (Lustkalkül) mit aufgeklärter Kenntnis der Welt zu verbinden versteht.

Diese bisweilen positive, oftmals kritische, immer aber produktive Auseinandersetzung mit Epikurs Lustlehre war Teil einer Rezeption hellenistischer Lehre, deren Techniken für Lebensbewältigung man sich in der Antike auch dort zunutze zu machen versuchte – ohne sich freilich offen dazu zu bekennen –, wo in christlich platonischer Kaiserzeit Jenseitssehnsucht und Ablehnungen epikureischer Diesseitigkeit vorherrschend waren oder wo man sich wie in der Renaissance epikureischen Gedankengutes zur Legitimation der Diesseitsbejahung im christlichen Kontext bediente. Lorenzo Valla z.B. rekurriert auf ein augustinisch, epikureisch geprägtes Gedankenexperiment, indem er die Auferstehung des Fleisches zur Rehabilitierung epikureischer Diesseitsbejahung nutzt.

Generell suchte man in der frühen Neuzeit Hilfe bei hellenistischen Philosophen wie Epikur – nicht nur bei der Stoa –, um den Platonismus und Aristotelismus des Mittelalters zu überwinden. Dabei kommt es zu interessanten und positiven Rezeptionsversuchen auch der Lustlehre. Die Rehabilitierung Epikurs und seines Hedonismus kann man sogar als Topos der Aufklärung bezeichnen. Von Interesse sind darüber hinaus weitere Rehabilitierungsversuche des Hedonismus, die über Feuerbachs Religionskritik zu Marx führen, und die noch heute in verschiedenen Formen in lebensphilosophischen Ausführungen wirksam sind.

  • Michael Erlers einschlägige Publikationen finden Sie hier.


Wolfgang Rother, Privatdozent für Philosophie an der Universität Zürich, Lektor für Philosophie im Verlag Schwabe, Basel, und Herausgeber des Ueberweg-Doppelbandes zur italienischen und spanischen Philosophie des 18. Jahrhunderts, hat eine wichtige Arbeit über den Eudämonismus und Hedonismus der italienischen Aufklärungsphilosophie vorgelegt, für den Ueberweg analoge Forschungen im Bereich der deutschen Aufklärung unternommen und eine Reihe von Aufsätzen zum Lustbegriff in der Antike und der frühen Neuzeit publiziert:

  • La maggiore felicità possiblile, Untersuchungen zur Philosophie der Aufklärung in Nord- und Mittelitalien, Basel 2005, 445 S.
  • Politische Philosophie: Recht, Staat, Ökonomie, in: H. Holzhey, V. Mudroch (Hg.): Grundriss der Geschichte der Philosophie. Begründet von Friedrich Ueberweg. Völlig neu bearbeitete Ausgabe. Die Philosophie des 18. Jahrhunderts, 4, hg. von, Basel 2010, 120 S.
  • Jenseits des Hedonismus. Aristoteles über Lust, Tugend und glückliches Leben, in: Méthexis 19 (2006) 111-123.
  • «Il dolore è il principio motore di tutto l’uman essere». Pietro Verri e Cesare Beccaria al di là della felicità, in: Il secolo dei Lumi e l’oscuro, a cura di Piero Giordanetti, Giambattista Gori e Maddalena Mazzocut-Mis, Milano 2008, 71-84.
  • Felicità, ragione, interesse e dovere. Aspetti della filosofia morale di Pietro Verri, in: Felicità pubblica, felicità privata, a cura di Anna Maria Rao (Napoli 2009).



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